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Die Corona-Krise ist Treiber aber auch Bremsklotz der Digitalisierung
Die Corona-Krise ist Treiber aber auch Bremsklotz der Digitalisierung
Das Feuer ist entfacht, die Digitalisierung nimmt langsam Fahrt auf. Doch der Coronavirus-Ballast verhindert noch, digital so richtig abzuheben.
© Illustration: iStock, Carsten Lüdemann
Digitalisierung: Corona sorgt für Anschub, aber nicht für Auftrieb
Von DVZ Redaktion

Die Corona-Pandemie war ein Boost für die Digitalisierung – mehr aber auch nicht. So formulierte es kürzlich Alexander Doll bei einer DVZ-Konferenz. Der ehemalige Logistik- und Finanzchef der Deutschen Bahn, der heute als Multi-Aufsichtsrat und Berater tätig ist, sehe in der Pandemie keinen Katalysator. Vieles sei bereits vor Corona eingeleitet worden. Die Pandemie habe eben nur gezeigt, wie wichtig IT und Vernetzung sind.

Martin Schwemmer, der gerade erst von der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services als Geschäftsführer zur Bundesvereinigung Logistik (BVL) gewechselt ist, pflichtete Doll bei. Auch er sehe zumindest eine Beschleunigung durch die Pandemie. Der Autor der Top-100-Marktstudien der vergangenen Jahre geht anhand seiner Umfragen unter den großen Logistikdienstleistern davon aus, dass diese seit Jahren konstant etwa um die 2 Prozent ihres Umsatzes in die Digitalisierung investieren.

Daran habe auch die Pandemie nichts groß geändert. Gemessen am Volumen des Logistiksektors in Europa mit einer Größe von etwa 1.100 Milliarden Euro seien jährliche Gesamtinvestitionen in Höhe von rund 25 Milliarden Euro plausibel, heißt es in der vor kurzem aktualisierten Top-100-Studie. Da der Begriff Digitalisierung immer noch ein Modewort sei und für viele verschiedene Themen stehe, sei diese Zahl jedoch vage, schreibt der Studienautor.

Große Investitionen sind notwendig

Seit Umfragebeginn 2015 ist aber fast jedes Jahr die Zustimmung zu der Aussage gestiegen, dass im Rahmen der Digitalisierung in den kommenden zwei Jahren große Investitionen in der Logistik notwendig sind. Addiert man die Anteile für „stimme voll und ganz zu“ und „stimme zu“, ergibt sich 2021 ein Anteil von 97 Prozent der befragten Top-Logistiker. „Corona dürfte aber auch das eine oder andere kleinere Unternehmen dazu gebracht haben, sich der Digitalisierung mehr zu öffnen“, schätzt Schwemmer. „Und davon wird etwas bleiben“, ist er überzeugt.

Manche Kunden von Couplink hätten ihre Digitalisierungsvorhaben sogar vorgezogen und konnten bereits während der Pandemie profitieren, berichtet Monika Tonne gegenüber der DVZ. Als Gründerin und Vorständin des Telematik-anbieters begleite sie seit mehr als 20 Jahren solche Projekte in der Logistik. „Allerdings haben wir auch die Erfahrung machen müssen, dass Krisen kurzfristig die Investitionsbereitschaft von Unternehmen hemmen können.“

Ein Investitionsstopp werde sich aber rächen, ist Tonne überzeugt, weil die Digitalisierung notwendig sei, um nach Corona wettbewerbsfähig zu bleiben. „Denn der konsequente Einsatz digitaler Lösungen unterstützt Unternehmen nicht nur dabei, krisenhafte Herausforderungen zu bewältigen.“ Wer in Innovationen investiert habe, werde zudem gute Chancen haben, nach der Krise ein überdurchschnittliches Wachstum und auch eine entsprechende Leistung zu erzielen, sagt Tonne.

Tchibo investiert in TMS

Bei Tchibo sei in Corona-Zeiten kein Digitalisierungsvorhaben gestoppt worden, sagte Logistikmanager Jan Schneider kürzlich auf DVZ-Nachfrage bei einem Gastvortrag für den Förderverein des Fachbereichs Wirtschaft der Hochschule Fulda. Auch er stellt eher eine Beschleunigung fest, so zum Beispiel bei der Investition in ein Transportmanagement-System (TMS), die schon länger geplant war, nun aber auch auf den Weg gebracht worden sei. Das Unternehmen habe sich hier für SAP Transportation Management entschieden.

Tchibo will dort künftig sämtliche Transportprozesse mit einem Jahresvolumen von weit mehr als 150 Millionen Euro abbilden – von der Auswahl des Dienstleisters über das Monitoring und Visibilitäts-Tools bis hin zur Abrechnung. „Das wird uns noch einmal stabiler, moderner und schneller in der Steuerung sämtlicher Transporte machen“, sagte Schneider, der bei Tchibo alle Lager- und Transportprozesse verantwortet.

Umzug des ERP

Zuletzt hatte der Konzern schon sein ERP-System (Enterprise Resource Planning) modernisiert. „Mit einem Dreivierteljahr Abstand kann ich sagen, dass es uns gelungen ist, erfolgreich auf eine SAP-HANA-Umgebung umzustellen“, sagte Schneider. „Das hat uns in Sachen Datentransparenz und Datenverarbeitungsgeschwindigkeit auch noch einmal deutlich nach vorn gebracht.“

Kommunikation und Transparenz in der Lieferkette spielen bei Tchibo pandemiebedingt eine zunehmend wichtigere Rolle. Hier habe das Unternehmen – wie viele andere auch – seine Anstrengungen noch einmal deutlich intensiviert. „Wir haben uns dabei auch mit neuen Tools beschäftigt“, sagte Schneider und nannte Ocean Insights.

Mit dem Anbieter für Seefrachtinformationen, der 2021 vom Transparenzplattform-Betreiber Project44 übernommen wurde, sei Tchibo bereits seit zwei Jahren verbunden. „Ocean Insights gibt uns noch einmal eine zusätzliche Visibilität bei der Seefracht im Kaffeebereich.“ Die Lösung ermögliche es dem Konzern zum Beispiel, die Produktionsplanung der Röstereien kurzfristig anpassen zu können.

Schub nur an der Oberfläche

Die neue Studie zum Digitalisierungsindex zeichnet aber ein negativeres Bild, als das, was Branchenbeobachter, Unternehmensvertreter, Lösungsanbieter oder auch Start-ups gegenüber der DVZ skizzieren. Den Studienautoren vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge fand der vielzitierte Digitalisierungsschub durch Corona nur an der Oberfläche statt. Der große Wurf sei ausgeblieben – vor allem, weil viele Unternehmen in der Krise das Risiko scheuten.

Die mäßige Entwicklung sei vor allem auf die Unsicherheit zurückzuführen, die mit der Pandemie einhergehe, schreiben die IW-Wissenschaftler Jan Büchel und Barbara Engels. Viele Unternehmen hätten vor allem dort digitalisiert, wo es überlebenswichtig war oder mit geringem Risiko einherging, beispielsweise im Bereich der Prozesse.

Größere digitale Geschäftsmodelle und innovative Projekte seien dagegen gestoppt worden, oft auch aus Kostengründen. Zu den Verlierern der Erhebung zählt vor allem der Sektor Verkehr und Logistik. Er landet mittlerweile auf dem vorletzten Platz der zehn bewerteten Branchen.

Geschrieben von Claudius Semmann

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