Circa 1 Stunde und 41 Minuten verbringen deutsche Internet-Nutzerinnen und -Nutzer derzeit täglich in sozialen Netzwerken – das sind 12 Minuten mehr, als es noch im Vorjahr der Fall war. Mit anderen Worten: Das Potenzial für Eigenwerbung und Recruiting auf Plattformen wie Instagram, Facebook, YouTube und Co. ist gewaltig – auch für die Logistikbranche. Schon jetzt wird mehr als ein Viertel der Werbebudgets im deutschen Markt in sozialen Netzwerken ausgegeben, zeigt der aktuelle „Digital Report 2023“ der Kreativagentur We Are Social und des Softwareunternehmens Meltwater.
Auch mit Blick auf den Fachkräftemangel wird Social Media immer öfter als optimale Lösung angepriesen, wenn es darum geht, junge Köpfe der Generationen Y und Z für das eigene Unternehmen zu begeistern. Immerhin liegt der Anteil der weltweiten Nutzerinnen und Nutzer unter 30 Jahren laut Digital Report 2023 dort bei 43 Prozent, das Potenzial scheint schier unendlich. Vor allem Video-Content wird zunehmend beliebter.
Es fehlt an Reichweite
In der Logistikbranche sind es in erster Linie die großen Namen wie Kühne + Nagel, Rhenus oder Hellmann, die mit einem Firmenprofil auf den verschiedenen Plattformen vertreten sind. Geworben wird dort vor allem für freie Jobs und Ausbildungsstellen, auf YouTube reihen sich zahlreiche aufwendig gestaltete Recruiting-Videos aneinander. Sie folgen einem klaren und durchdachten Ablauf, kleine Versprecher oder gehemmte Sprachflüsse gibt es nicht. Alles ist perfekt, vom Licht bis zu den Schnittbildern – nur die Aufrufzahlen im teilweise lediglich dreistelligen Bereich sind es nicht.
Sind Fachthemen wie Logistik und Transport zu ungeeignet, um in den sozialen Netzwerken zu funktionieren? Nicht unbedingt, sind sich Experten einig. Das Thema muss nur richtig angegangen werden. „Oft wirken von Unternehmen produzierte Videos zu gestellt und wenig authentisch. Es fehlt ihnen an Persönlichkeit, und die Videos sind nicht spannend gestaltet“, beobachten unter anderem Creator Managerin Jana Peters und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Influencer-Marketing-Agentur Lookfamed.
Lkw-Fahrer erobern TikTok
Dass es auch anders geht, stellt seit einiger Zeit vor allem eine Berufsgruppe unter Beweis. Immer mehr Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer wachsen in den sozialen Medien zu Influencern heran. Den größten Erfolg erzielen sie auf der chinesischen Kurzvideo-Plattform TikTok. Was als Trend in den USA begann, ist zunehmend auch in europäischen Ländern zu beobachten.
Die Menschen hinter den Videos sind vor allem „junge, coole Charaktertypen, mit denen man sich gerne identifiziert und denen man gerne zuschaut“, beobachtet Yvonne Willmer von der Agentur Blaupause KfK. „Der Drehort ist der Lkw – kein Büro oder Lager. Entsprechend ist das Interesse bei der Zielgruppe für den Job des Fahrers natürlich schneller geweckt.“ Die Kurzvideos der jungen Trucker geben persönliche Einblicke in den Alltag im Nah- und Fernverkehr, sie beantworten Fragen, sprechen direkt mit ihrem Publikum und verbinden Berufliches und Privates stets mit einer Mischung aus Humor und offener Direktheit.
Zu den erfolgreichsten deutschen „Trucker-Influencern“ gehört René Schmock mit stolzen 3,4 Millionen Followern auf TikTok. Auch wenn der zweifache Familienvater seinen Job als Lkw-Fahrer mittlerweile an den Nagel gehängt hat, will er der Branche weiterhin durch regelmäßige Videos zum Beruf des Fahrers erhalten bleiben.
„Ich habe irgendwann alles gleichzeitig gemacht: Bin Lkw gefahren, habe mich um meine beiden Kinder gekümmert und war auf mehreren Plattformen wie Twitch, YouTube, TikTok und Instagram aktiv. Irgendwann konnte ich nachts nur noch drei oder vier Stunden schlafen“, erinnert sich René an die Gründe für seinen Jobausstieg. Dennoch blickt er gerne auf die zehn Jahre zurück, die er am Lkw-Steuer im Göttinger Nahverkehr verbracht hat. „Ich bin morgens in meinen Lkw eingestiegen, hab mein Ding gemacht und war mein eigener Chef, ohne Chef zu sein. Mir wurde bei der Arbeit nicht auf die Finger geguckt. Und am Ende des Tages habe ich meinen Schlüssel abgegeben und war wieder zu Hause.“
Dass sich der Alltag als Lkw-Fahrer im Nahverkehr sehr wohl mit Familie und einem geregelten Privatleben vereinbaren lässt, versuchte der junge Göttinger zwischen vielen Videos aus seinem Privatleben und Kochexperimenten mit seiner geliebten Heißluftfritteuse auch in den sozialen Medien zu vermitteln. Darüber hinaus beantwortete er für Fahrerneulinge Fragen wie „Was verdiene ich als Lkw-Fahrer?“, „Wieso ist der Lkw-Sitz so gefedert?“, „Wie viel kostet eine Lkw-Tankfüllung?“ oder „Warum hasse ich den Winter als Lkw-Fahrer?“
Der Social-Media-Erfolg von Fahrerinnen und Fahrern wie René Schmock oder BGL-Botschafterin Christina Scheib könnte für Logistikunternehmen und die Branche selbst eine große Chance sein, um die Sichtbarkeit und das Image gerade in den Augen junger Menschen zu beeinflussen. Sei es durch Inspirationen für die unternehmenseigene Social-Media-Strategie oder Kooperationen.
Kooperationen mit Influencern
Erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit „Trucker-Influencern“ konnte die Göttinger Zufall Logistics Group sammeln, für die René Schmock vor seiner Zeit als Social-Media-Star zeitweise als Lkw-Fahrer tätig war. „Wir haben gemerkt, dass eine Anzeige in der Lokalzeitung nicht mehr funktioniert und dass wir uns mit Social Media auseinandersetzen müssen. Es sind auch nicht mehr nur Xing und LinkedIn, sondern geht schon viel weiter darüber hinaus“, erzählt Kolja Fichtner, Niederlassungsleiter der Zufall Logistics Group in Göttingen. Was folgte war aber auch die Erkenntnis, dass es mit Hilfe eines Firmenprofils in den sozialen Medien gar nicht so einfach ist, die gewünschte Zielgruppe zu erreichen.
Über bestehende Kontakte zur Agentur Lookfamed, die auch René Schmock bei seiner Arbeit unterstützt, kam schließlich die Idee einer zunächst einmaligen Zusammenarbeit auf: Mit dem Titel „Mein Tag als Lkw-Fahrer“ veröffentlichte der Influencer Ende Oktober 2022 ein Video auf seinem TikTok-Kanal und übernahm im Rahmen dessen eine Tour im Göttinger Nahverkehr, auf die er seine Follower digital mit in den Lkw nahm. Mittlerweile hat das 53-Sekunden-Video bereits 1,3 Millionen Aufrufe.
Geplant sei nun, dass René regelmäßig Videos in Kooperation mit Zufall Logistics produziert. „Wir sind dazu gerade in Gesprächen mit Lookfamed“, so Fichtner. Ziel sei es, die Sichtbarkeit auf das Unternehmen, vor allem aber auch auf die Jobs, die dahinterstecken, zu lenken. Langfristig soll nicht nur der Beruf des Lkw-Fahrers, sondern auch andere Unternehmensbereiche wie die Disposition oder Tätigkeiten im Umschlaglager thematisiert werden. „Es geht darum, auf nette Art und Weise darüber zu berichten und Menschen anzusprechen, die sonst nicht auf unsere Homepage kommen oder uns auf Instagram folgen würden – sondern Menschen, die René folgen, weil sie den cool finden“, erklärt Fichtner. „Ich glaube, das ist so ziemlich die ehrlichste Art, sich ein Bild über ein Unternehmen zu machen.“ René dürfe die Videos ohne inhaltliche Abstimmung produzieren, was Vertrauen voraussetzt.
Für die Zufall Logistics Group ist die Zusammenarbeit ein wichtiger Schritt mit Blick auf den Fachkräftemangel. Man müsse den Erfolg aber realistisch einschätzen, gibt Fichtner zu bedenken. „René hat zwar um die 3,2 Millionen Follower auf TikTok, davon sind aber um die 3,19 Millionen vermutlich überhaupt nicht an Logistik interessiert.“ Dennoch habe das Unternehmen nach einem Bewerbungsaufruf von René tatsächlich um die 100 Bewerbungen erhalten – obgleich die beruflichen Qualifikationen vieler Interessierter nicht für die zu besetzenden Stellen infrage kamen.
Authentisch, spontan, humorvoll
Was heißt all das nun für die Social-Media-Strategien von Logistikunternehmen? Zunächst einmal, dass es nicht reicht, „einfach nur einen Kanal zu haben und austauschbare oder gestellte Videos zu posten“, meint Lena Görmann, Head of Marketing bei der Personalberatung Transport Talent. „Unternehmen sollten sich ausführlich Gedanken machen, welche Art von Content die Zielgruppe wirklich interessiert und auf welchen Plattformen sich diese bewegt.“ Gerade in Netzwerken wie TikTok gehe es in erster Linie um Aspekte wie Authentizität, Spontanität und Humor. Was potenzielle Bewerberinnen und Bewerber am ehesten überzeugt, seien persönliche und authentische Einblicke in die Unternehmenskultur – nicht mehr nur klassische Faktoren wie Urlaubsansprüche oder das Gehalt.
„Unternehmen sollten lockerer bei der Gestaltung der Videos sein und echte Einblicke zeigen. Da kommt es nicht auf das perfekte Licht an, die Leute müssen ,gecatcht‘ werden“, erklärt Peters. Damit das gelingt, empfiehlt Görmann, Mitarbeitende aktiv mit einzubeziehen: „Im Bereich Recruiting lautet das Zauberwort Employer Branding. Unternehmen sollten die bereits bestehenden Mitarbeitenden unbedingt mit ins Boot holen und diese beispielsweise in Videos zu Wort kommen lassen oder bei der Arbeit begleiten.“
„Unternehmen können davon profitieren, wenn Mitarbeiter ihren Berufsalltag in den sozialen Medien teilen. Der Erfolg hängt davon ab, wie affin diese mit den Plattformen umgehen“, bestätigt Willmer. „Auch spielt Sympathie und die Größe des eigenen Netzwerkes eine Rolle.“
Wer sich im Bereich Social Media noch auf weitgehend unbekanntem Terrain bewegt, sollte dagegen zunächst mit Nachforschungen starten, so Görmann: „Ich empfehle den Unternehmen, die richtig ins Thema Social Recruiting einsteigen möchten, zunächst mit einer Recherche zu beginnen: Welche Art von Content veröffentlichen andere Unternehmen, die bereits sehr erfolgreich dabei sind? Welche ihrer Videos haben die meisten Reaktionen erzielt? Was kommentiert die Zielgruppe und welche Fragen werden gestellt?“
Den Algorithmus verstehen
Wie erfolgreich ein Beitrag im jeweiligen Netzwerk „performt“, hängt aber immer auch von dem dahinterstehenden Algorithmus ab und wie sich dieser beeinflussen lässt. Beispielsweise durch die Nutzung plattformeigener Trend-Sounds, mit dem Videos musikalisch untermauert werden können, erklärt Willmer: „Der Algorithmus erkennt dies und pusht die Videos, indem sie vermehrt Nutzern angezeigt werden, die Videos mit dem Sound vorher bereits geschaut haben.“ Ebenso können Aspekte wie Tag und Uhrzeit eines Postings, Interaktionen sowie Hashtags dessen organische Reichweite beeinflussen.