Logistikwissen zum Durchstarten

Bild aus alten Start-up-Zeiten: Marc Schmitt 2018 im Silicon Valley. Als Evertracker-CEO nahm er damals an einem Accelerator-Programm von Plug and Play teil.
© Foto: Jay Watson
Marc Schmitt: „Plattformen sind die Zukunft“
Von DVZ Redaktion

Er hat das Start-up Evertracker mit gegründet und ist Mitglied im Gremium der Logistikweisen: Marc Schmitt spricht im DVZ-Interview über den Stand der Digitalisierung in der Logistik, mögliche Ambitionen von Amazon und wie es mit Evertracker jetzt bei Fr. Meyer‘s Sohn weitergeht.

Blue Rocket/DVZ: Herr Schmitt, wo sehen Sie die Digitalisierung im Bereich Logistik und Supply Chain nach zwei Jahren Pandemie?

Marc Schmitt: Da muss man unterscheiden: Spricht man von innovativen Geschäftsmodellen oder vom Einsatz moderner Computersysteme zur Prozessverbesserung? Hinsichtlich digitaler Geschäftsmodelle hat Corona die wenigen Bemühungen fast komplett zum Erliegen gebracht. Technik-Hypes wie Blockchain oder auch das Automatisieren von Entscheidungsprozessen mit Hilfe künstlicher Intelligenz sehe ich bisher auch nicht in der breiten Anwendung. Es lässt sich aber beobachten, dass Unternehmen zumindest damit beginnen, sich mit dem Thema Datenaustausch zu beschäftigen. Auf dieser Basis könnte man später einmal neue Geschäftsmodelle entwickeln. Die Technik ist Nebensache.

Der Logistiksektor ist ja bekannt dafür, vergleichsweise wenig vom Umsatz in Innovationen zu investieren. Woran könnte das liegen?

Ich denke, dass die Notwendigkeit zu Innovationen bisher noch nicht unbedingt gesehen wird. Es gibt noch immer viele Logistiker, die – unabhängig von den Digitalthemen – erfolgreich sind. Zudem kommt der Sektor vergleichsweise gut durch die Corona-Krise, einige Dienstleister profitieren sogar. Und dann ist es bei einer Branche mit so vielen Einzelfirmen und Silos mit jeweils eigener Struktur sehr kompliziert. Das lässt sich nicht alles einfach aufbrechen und zusammenführen. Warum sollte ein Logistiker seine Daten teilen? Einfach nur, damit die Welt transparenter wird?

Wer heute noch zu den Gewinnern gehört, könnte in wenigen Jahren aber schon vom Markt verschwunden sein.

Ich würde auf jeden Fall immer mit dem Blick in die Zukunft argumentieren. Irgendwie und irgendwann wird alles zu 100 Prozent transparent werden. Das Teilen von Informationen war innerhalb von Unternehmen und zum Kunden hin schon immer wichtig. Und künftig lassen sich Daten einfacher austauschen. Es könnte also sein, dass zum Beispiel dieses ganze Transparenzthema schon in fünf Jahren der Wettbewerbsvorteil schlechthin sein wird. Doch die Frage ist: Wer steckt jetzt seine ganze Energie da hinein, auch wenn er sich damit vielleicht einen Teil seines bisherigen Geschäfts kaputtmacht?

In den vergangenen zwei Corona-Jahren dürften nur die wenigsten Firmen mit voller Energie an Zukunftsthemen gearbeitet haben.

Ich würde sagen, die Branche hat sogar schon sechs oder sieben Jahre verloren. Denn in dieser Hype-Phase vor Corona ist oft auf die falschen Themen gesetzt worden. Einige haben sich zum Beispiel auf Drohnen oder die Blockchain gestürzt. Mit Beginn der Corona-Krise sind dann viele in eine Angststarre verfallen, bis es vor allem wieder nur noch darum ging, schnell viel Geld zu verdienen. Und so sehe ich derzeit wenige am Markt, die noch in die Zukunft blicken.

Worüber sich alle im Klaren sein müssten: Plattformen sind die Zukunft. Es wäre aber Quatsch, wenn jetzt jeder in eine Plattform investiert, denn es wird nicht Hunderte geben. Die anderen müssen sich überlegen, ob sie eine Plattform bespielen wollen. Dort gibt es dann spezialisierte Anbieter, die Software, Services, Lkw oder was auch immer bereitstellen. Ein Logistiker muss hier sehen, wie er mit seinem Geschäftsmodell seinen Platz findet.

Wird einer dieser wenigen Plattformbetreiber Amazon sein?

Amazon hat sicherlich Ambitionen in diese Richtung. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit als groß ein, dass Amazon seine Cloud-Lösung öffnen wird und man dann darüber seine Supply-Chain-Themen abwickeln kann.

Aber haben Unternehmen nicht große Bedenken, wenn es um das Nutzen von Cloud-Lösungen US-amerikanischer Konzerne geht?

Nein, diese Angst existiert fast nicht mehr. Vor fünf Jahren ging es in der Tat gar nicht, wenn wir mit Amazon Web Services (AWS) zu den Kunden kamen. Inzwischen aber ist es geradezu Pflicht, Google oder AWS zu benutzen.

Sehen Sie auch ein traditionelles Logistikunternehmen in der Rolle eines Plattformbetreibers?

Für traditionelle Dienstleister ist es zumindest schwierig. Man braucht eine sehr gute Strategie und ein gutes unternehmerisches Verständnis. Firmen mit langer Historie können nicht so einfach neue Wege einschlagen. Plattformen funktionieren nur, wenn sie neutral auftreten. Sowohl Kunden als auch Wettbewerber halten sich von Plattformen fern, die zu eng mit einem konkreten Dienstleister verwoben sind. Traditionelle Firmen dürften den Fokus auf das Kerngeschäft nicht verlieren und müssten parallel ein rein digitales Geschäftsmodell anbieten. Das ist eine besondere Herausforderung für die Geschäftsleitung. Dafür muss man digital denken und das traditionelle Geschäft verstehen. Sonst funktioniert entweder die Plattform nicht, oder man macht sich sein eigenes Geschäft kaputt. Und besonders wichtig dabei ist, jeden Mitarbeiter mitzunehmen. Ein Unternehmen, das neu in den Markt kommt, hat es da einfacher. Es kann seinen Fokus auf nur ein Thema konzentrieren.

Aber auch nicht so einfach.

Ja, ein neuer Player müsste natürlich überhaupt erst einmal den Markt bearbeiten, der seit langer Zeit sehr gut bespielt wird. Er müsste zunächst die Kundenbeziehung aufbauen und die Transportkapazitäten bekommen. Das ist schon eine Herausforderung. Denn warum sollte jemand zu einem digitalen Spediteur gehen, wenn die traditionellen Dienstleister immer wahnsinnig gute Services anbieten?

Wer wird das Spiel letztlich gewinnen?

Das ist schwer zu sagen – eigentlich derjenige, der den Zugang zu den meisten Kunden hat.

Also Amazon.

Ja, Amazon verdient am Produkt, am Logistikprozess und an der Plattform. Derjenige, der am Produkt Geld verdient – also am verkauften Produkt und nicht an der Logistikdienstleistung –, der wird in Zukunft die wichtigste Rolle spielen. Das kann sowohl ein neuer Player als auch ein Logistikdienstleister sein. Bei den klassischen Logistikern sehe ich derzeit aber wenige Strategien in diese Richtung. Die Digitalisierungsprojekte sind zwar groß, aber es wird immer zu klein gedacht.

Kommen wir zu Evertracker, wo Sie zuletzt CEO waren. Wie bei Start-ups üblich, wurde groß gedacht. Die Gesellschaft ist nun aber aufgelöst worden. Warum?

Weil wir uns entschieden haben, unsere Kräfte mit dem Speditions- und Logistikunternehmen Fr. Meyer’s Sohn zu bündeln. Fr. Meyer’s Sohn war schon immer ein Partner von uns, mit einer starken digitalen Ausrichtung. Vor einem Jahr hat das Unternehmen dann selber eine Supply-Chain-Lösung namens Cargo Cube gestartet – und da haben wir viele Synergien gesehen. Zudem war es während der Corona-Krise, in der viele Innovationsprojekte auf Eis gelegt wurden, für uns schwierig, weitere Kundenbeziehungen aufzubauen. Mit Fr. Meyer’s Sohn sehen wir wieder die Chance, wachsen zu können.

Wie groß denken Sie gemeinsam?

Wir müssen sehr groß denken. Denn am Ende wollen wir Geld verdienen, also müssen wir genügend Kunden haben. Das Management von Fr. Meyer’s Sohn hat sich aktiv für diesen Weg entschieden, der wenig mit dem Bestandskundengeschäft zu tun hat. Wir wollen dem Markt ganz neutral Control-Tower-Lösungen anbieten.

Was sind das für Lösungen?

Mit Evertracker können wir einem Hersteller bis auf Teileebene heruntergebrochen sagen, wann seine Komponenten ankommen und welche Verspätung sie möglicherweise haben werden. Unser Kunde interessiert sich also fast nicht für die Logistik. Der Versand durch den Zulieferer und der Transport spielen in dem Kontext aber natürlich trotzdem eine Rolle. Hier setzt Cargo Cube an. In der Kombination könnten wir eine nahezu Ende-zu-Ende-Lösung anbieten.

Was ist der Unterschied zu den bekannten Visibility-Plattformanbietern?

Nur Transparenz war nie unser Thema. Denn ein Produzent will ja eigentlich nicht wissen, wo etwas ist, sondern er will wissen, ob ein Teil nicht rechtzeitig ankommt und wann es dann da sein wird. Bei uns geht es also auf der einen Seite um die Planung der Produktion, also wie zum Beispiel ein Autohersteller seine Fertigung zuverlässiger planen kann, weil er weiß, wann Teile verfügbar sind. Und auf der anderen Seite geht es darum, dem Zulieferer die Services eines Spediteurs anzubieten. Dieses Expertenwissen hat keiner dieser Anbieter.

Wie wird Ihre Rolle bei Fr. Meyer‘s Sohn aussehen?

Ich werde die Geschäftsentwicklung für das neue, ganzheitliche Produkt verantworten. Dabei war es uns als Evertracker wichtig, dass wir alle Entscheidungen unabhängig vom eigentlichen operativen Geschäft von Fr. Meyer‘s Sohn treffen können, auch wenn wir momentan keine eigenständige Firma sind und unter dem Dach von Fr. Meyer‘s Sohn agieren. Herr Schmitt, vielen Dank für das Gespräch. (Das Interview führte Claudius Semmann)

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